Seit dem Release der ersten Yu-Gi-Oh! Karten in Deutschland sind 17 Jahre vergangen. 17 Jahre, in denen unser geliebtes Kartenspiel eine beachtliche Anzahl an Karten, Regeln und Fans angehäuft hat. 17 Jahre, in denen auch die Fans der ersten Stunde, damals Kinder, ihren Weg gegangen sind und heute als Erwachsene in der Arbeitswelt vielleicht immer noch oder wieder ein Plätzchen für Yu-Gi-Oh! in ihrem Alltag freihalten. So geht es jedenfalls mir selbst: Ich bin heute als Lehrer an derselben Schule, an der ich einst mein Abitur gemacht habe. Und damals wie heute habe ich den Spaß an Yu-Gi-Oh! nie verloren. Aus diesem Grund möchte ich euch heute auf eine kleine Reise durch die Zeit mitnehmen, zurück in die Schule, auf die Pausenhöfe, zurück ins Jahr 2002.
Es ist 6:30 Uhr morgens und ich packe meine Schultasche. Eigentlich hätte ich das am Vorabend erledigen sollen und mir klingen die mahnenden Worte meiner Mutter in den Ohren. Wie üblich werde ich sicherlich wieder ein Buch oder ein Heft vergessen, aber eine Sache habe ich definitiv dabei: Meine Yu-Gi-Oh! Karten. Abgegriffen sind sie, die Ecken weiß und einige verknickt. Kartenhüllen habe ich nicht, eine Deck-Box auch nicht. Aber das ist nicht wichtig, denn diese Karten sind trotzdem etwas ganz besonderes für mich. Ich habe sie mir mühsam mit meinem Taschengeld zusammengespart. Einige glitzern sogar, die meisten sind aber eher schwach und wenig wertvoll.
In der vollen Bahn stehen mein bester Freund und ich zwischen Männern im Anzug, müden Jugendlichen und anderen Schülern. Platz für unsere Karten ist hier nicht, dennoch drehen sich unsere Gespräche immer um dieses magische Spiel, das wir entdeckt haben. Mein Freund erzählt mir von seinen neuen Errungenschaften und ich bin etwas neidisch, gibt es in meiner Nachbarschaft doch keine anderen Enthusiasten, mit denen ich meine Leidenschaft teilen, spielen und tauschen kann.
Die ersten Schulstunden ziehen sich in die Ewigkeit, bis endlich der erlösende Pausengong erklingt. Rasch krame ich meine Karten aus meinem Schulranzen und stürme in die Pause. Auf dem Hof sitzen schon ein paar andere Schüler mit ihren Karten, aber die interessieren mich nicht: die Kleinen haben nichts drauf und sowieso keine seltenen oder starken Karten, ich bin schon 13 und gehöre zu den Größeren.
Mein bester Freund zeigt mir seine Ausbeute: Er hat Drachenmeister Gaia von einem kleinen Nachbarsjungen bekommen und gibt jetzt damit an, wie gut der Tausch für ihn war und wie wenig er für diese seltene Karte geben musste. Spielen kann er sie aber nicht: Ihm fehlt Polymerisation, insofern stellt diese Karte für mich keine Bedrohung dar.
Wir spielen eine Runde, bevor der Gong das Ende der Pause und die nächste Phase des Martyriums ankündigt. Ja, die Duelle zu jener Zeit dauerten lange. Pro Spielzug wurde eine Beschwörung durchgeführt, Spezialbeschwörungen waren die große Ausnahme und man war der König des Pausenhofs, wenn es doch mal gelang. Die Lebenspunkte schmolzen zu jener Zeit noch langsam dahin und überhaupt steckte dieses fantastische Spiel noch in den Kinderschuhen. Unsere Lehrer und Eltern beäugten diesen neuen Trend mit einigem Misstrauen und man hörte Geschichten von Schulen, an denen das Spiel verboten wurde. Das Spiel sei aus pädagogischer Sicht gefährlich, da Erfolg nur mit teuren Karten zu erzielen sei, und sozial schwächere Kinder so ausgegrenzt würden.
Davon wollen wir nichts wissen, unsere Freizeit ist dominiert von diesem Spiel und wir genießen es. An einem wetterbeständigen Märznachmittag treffen wir uns zu einem privaten Turnier, das ein Freund von mir veranstaltet. Er hat sich richtig ins Zeug gelegt, vorab Booster als Preise organisiert und eine kleine Teilnahmegebühr eingesammelt – nicht, um Profit zu schlagen, sondern um seine Ausgaben zu decken. Ziel ist es, gemeinsam Spaß zu haben, seine neuen Karten zu präsentieren und seine Freunde mit einem neuen Deck zu überraschen. Unser Spiel ist laienhaft, weit entfernt von Locals und großen Turnieren und ich denke heute gerne an die Zeiten zurück, in denen ein Duell nicht mit der Starthand und dem ersten Zug entschieden wurde. Es war eine Zeit der Gelassenheit, des Hinnehmens. Wir mussten akzeptieren, wenn unser teuer beschworenes 8-Sterne-Monster direkt in eine Fallgrube lief und konnten Topf der Gier höchstens mit einem Augenrollen ahnden. Eine Banlist gab es für uns auch nicht, wir spielten einfach mit den Karten, die wir hatten. So gesehen war dieses kleine Garagenhofturnier vielleicht das Ehrlichste, das ich in den letzten 17 Jahren besucht habe.
Seit damals hat Yu-Gi-Oh! immens an Komplexität und Strategie gewonnen, Decks harmonieren sehr viel kohärenter und die Duelle haben an Geschwindigkeit und Power gewonnen. Auch das hat seinen Wert und sicherlich ist der Blick auf die Vergangenheit nicht frei von etwas verklärter Nostalgie, und dennoch haben auch die Zeiten, über die wir heute sicherlich ein wenig lächeln, ihre Berechtigung: Es sind schöne Erinnerungen, die auch die Gegenwart prägen. Freundschaften, die damals entstanden sind, halten bis heute an und auch das Spiel selbst hat mich, trotz längerer Pause, nie ganz losgelassen.
Heute bin ich selber Pädagoge und sehe in Yu-Gi-Oh! einen – sicherlich nicht ganz unvoreingenommenen – Wert für Kinder. Daher freue ich mich, dass dieses Spiel auch heute nicht gänzlich aus den Schulen verschwunden ist. Zugegeben, der große Boom von damals ist längst verflogen, doch immer wieder sehe ich bei Schülern von der 5. Klasse bis zur Oberstufe Karten und Decks. Ein Schüler der 6. Klasse präsentierte seinen Freunden erst vor wenigen Wochen sein neues Lichtverpflichtet-Deck, das er von seinem großen Bruder bekommen hatte.
Ein Achtklässler erzählte mir, er sei über seinen Onkel, der in meinem Alter zu sein schien, auf Yu-Gi-Oh! aufmerksam geworden. Bei einem Oberstufenschüler entdeckte ich eine Karte als Lesezeichen in seinem Buch. Als ich ihn auf dieses Sakrileg ansprach, versicherte er mir, dass seine wertvolleren Karten sicher zu Hause in einem Ordner aufbewahrt würden.
Dass ich selbst immer noch (oder wieder) spiele, behalte ich dabei jedoch für mich. Jede Generation soll den Zauber dieses Spiels selbst entdecken und es ist gar nicht cool, wenn der Lehrer dasselbe Spiel spielt wie man selbst.
Yu-Gi-Oh! vereint Generationen und lehrte uns einst Fairness, Respekt vor dem Gegner und seinen Karten und den Wert der Freundschaft und es ist schön zu sehen, dass sich dieses Trading Card Game auch heute noch in den Schulen hält und es immer wieder Kinder gibt, die denselben Weg beschreiten wie wir es vor 17 Jahren taten.
Euer Hyozan